Die Bedeutung der Entfaltung der Achtsamkeit
Tiefe Einsicht aus einer Lehrrede der Neuzeit
Der Einsatz-, Angel- und Endpunkt der Heilsbotschaft des Buddha und das Kernstück seiner Geistlehre liegt in jenem einfachen Mahnwort:
SEI WACH BEI ALLEM WAS DU TUST
(Glaub' ja nicht, daß du es schon bist)
Die Achtsamkeit erfüllt somit die gleichen Funktionen, die wir der Geistlehre des Buddha im allgemeinen zuschreiben. Denn die Achtsamkeit ist
a) der von selbst das Verborgene öffnende Schlüssel zur Erkenntnis des Geistes und damit der Anfangspunkt
b das nie versagende Werkzeug zur Formung des Geistes und damit der Dreh- und Angelpunkt des geistigen Wachstums
c) das Wahrzeichen der gewonnenen Befreiung des Geistes und damit der Höhe- und Endpunkt.
Die Achtsamkeit, so hoch gepriesen und so hoher Ergebnisse fähig, ist aber keineswegs ein mystischer Geisteszustand, der nur wenigen Erlesenen verständlich und zugänglich ist. Achtsamkeit in ihrer elementarsten Erscheinungsform ist vielmehr eine der Grundfunktionen des Bewußtseins, ohne welche es keinerlei Objektwahrnehmung gibt. Tritt nämlich irgendein genügend starker äußerer oder innerer Reiz auf, so wird Achtsamkeit geweckt, und zwar zunächst in ihrer einfachsten Form, als das anfängliche Aufmerken, die erste Zuwendung des Geistes zum Objekt. Damit durchbricht das Bewußtsein den trägen, dunklen Strom des Unbewußten, ein Vorgang, der sich während des Wachbewußtseins in jeder Sekunde unzählige Male vollzieht. Diese anfängliche Funktion der Achtsamkeit als erste Reiz-Reaktion ist noch ein recht primitiver Vorgang, doch er ist von entscheidender Bedeutung als das erste Sich-Abheben des Bewußtseins von seinem unterbewußten Grunde.
( 1 )
Dieses erste Aufmerken wird lediglich ein ganz allgemeines und noch sehr undeutliches Bild des Objektes liefern. Wenn daraufhin weiteres Interesse am Objekt vorhanden oder dessen Einwirkung auf die Sinnesorgane genügend stark ist, wird sich eine schärfere Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten des Objektes richten. Sie wird sich nicht nur mit den verschiedenen charakteristischen Merkmalen des Objekts befassen, sondern auch mit seiner Beziehung zum Subjekt des Erkennens. Hierdurch wird eine vergleichende Einordnung der Wahrnehmung in frühere Erfahrungen (Assoziation) ermöglicht. Dies bedeutet eine wichtige Phase in der Geistesentwicklung und zeigt auch, in der Beziehung auf frühere Wahrnehmungen, den engen Zusammenhang von Achtsamkeit und Gedächtnis, die beide im Páli (der Sprache der buddhistischen Texte) mit dem Begriff „ sati“ bezeichnet werden. Ohne die Gedächtniskraft würde die Achtsamkeit nur isolierte, unzusammenhängende Tatsachen auffassen, wie es zum großen Teil bei den Wahrnehmungen der Tiere der Fall ist. Aus der auf dieser Stufe erfolgenden Ich-beziehung der Wahrnehmung und aus Fehlassoziationen können sich aber schwerwiegende Fehlerquellen der Erkenntnis ergeben (s.a. Warnungen bei Konzentration). Aus dem assoziierenden Denken ergibt sich ein weiterer wichtiger Schritt in der Geistesentwicklung, nämlich die Zusammenfassung von Einzelerfahrungen (Generalisierung), d.i. die Fähigkeit abstrakten Denkens.
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Für die Zwecke unserer Darlegung schließen wir diese Phase in die zweite Stufe der durch die Entwicklung der Achtsamkeit bewirkten Bewußtseinsentwicklung ein. Wir haben somit vier charakteristische Züge dieser zweiten Stufe festgestellt: genauere Objektkenntnis (zunehmende Kenntnis von Einzelheiten), engere Beziehung auf das Subjekt (Subjektivierung der Erfahrung), assoziierendes und abstraktes Denken. Auf dieser zweiten Ebene einer entwickelteren Achtsamkeit spielt sich der weitaus größte Teil des geistigen Lebens der heutigen Menschheit ab; sie umfaßt ein weites Gebiet: beginnend mit jeder genauen Beobachtung, der aufmerksamen Beschäftigung mit irgend einer Arbeit, bis zur Verfeinerung der Achtsamkeit in den kritischen Methoden der wissenschaftlichen Forschung zur Untersuchung. Die Bilder der Wahrnehmung, die sich auf dieser Stufe bieten, sind aber meist noch eng verquickt mit allerlei Vorurteilen des Gefühls und Denkens, mit Fehlassoziationen, unzugehörigen Zutaten und vor allem mit der Hauptursache aller Täuschung, der Annahme von etwas Substanzhaftem in den Dingen oder etwas Ichhaftem in den Lebewesen. Durch alle diese Faktoren ist die Verläßlichkeit manchmal sogar der einfachsten Wahrnehmungen und Urteile sehr beeinträchtigt. Auf dieser Entwicklungsstufe der Achtsamkeit bleiben meisten diejenigen stehen, die ohne die Buddha-Belehrung geblieben sind oder sie nicht auf ihr alltägliches Leben und Denken anwenden.
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Mit der nächsten Entwicklungsstufe betreten wir das eigentliche Gebiet der „rechten Achtsamkeit“ im buddhistischen Sinne. Die Achtsamkeit wird hier als „recht“ bezeichnet, weil sie den Geist von verfälschenden Einflüssen frei hält; weil sie Grundlage und Bestandteil rechter Erkenntnis ist; weil sie den Menschen lehrt, das «rechte Ding» in rechter Weise zu tun; und weil sie dem vom Buddha gewiesenen rechten Ziele dient: der Aufhebung des Leidens der durch rechte Wirklichkeitserkenntnis und der Überwindung in einem selber von allem Unrechten, das seine Wurzel hat in Gier, Haß und Wahn. Wenn Wahrnehmungen und Gedanken gleich bei ihrem Entstehen mit rechter Achtsamkeit aufgenommen und geprüft werden, so bieten sie sorgfältig gesichtetes Erfahrungsmaterial und einen mit Vorurteilen unvermischten Gedankenrohstoff, wodurch dann die praktischen und sittlichen Entscheidungen des Menschen, sowie seine Denkurteile einen unvergleichlich höheren Grad von Verläßlichkeit erhalten. Vor allem aber werden solch nüchtern geprüfte und unverzerrte Wirklichkeitsbilder eine verläßlichere Grundlage bilden für die buddhistische Haupt-Meditation:
die Betrachtung aller Daseinsvorgänge als veränderlich, unbefriedigend und substanzlos.
Einem ungeschulten Geist wird freilich solch intensiver Einsatz „rechter Achtsamkeit“ durchaus nicht «nahe» oder «vertraut» vorkommen, da er sie nur allzu selten geübt hat. Doch auf dem durch die Satipatthána-Methode gewiesenen Wege kann sie zu etwas Nahem und Vertrauten werden, da sie ja, wie wir zeigten, in etwas so Nahem und Vertrautem wurzelt. Denn auch diese „rechte Achtsamkeit“ erfüllt im Grunde die gleichen Funktionen wie auf den beiden früheren Entwicklungsstufen, wenn auch höher.
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Geistigen Fortschritt hat man mit Recht mit einer spiralenartigen Bewegung verglichen, d.h. die Grundsituationen wiederholen sich auf verschiedenen Ebenen. Die gemeinsamen Grundfunktionen der verschiedenen Achtsamkeitsgrade sind die Auslösung einer zunehmend höheren Bewußtseins-Klarheit und Bewußtseins-Intensität sowie die Gewinnung einer zunehmend von Fehlerquellen gereinigten Wirklichkeitserkenntnis. Wir haben oben diese Entwicklungslinie kurz verfolgt: in ihrem Aufsteigen vom Unbewußten zum Bewußten; vom ersten flüchtigen Bewußtseins-Eindruck zu einer deutlicheren Objektvorstellung; von einer immer noch lückenhaften und durch Wille und Vorurteil getrübten Wahrnehmung zu einem klaren und unverfälschten Bild der Wirklichkeit. Wir haben hierbei gesehen, wie es besonders eine erhöhte und geschärfte Achtsamkeit ist, die, natürlich von anderen Faktoren unterstützt, zu der jeweils höheren Entwicklungsstufe führt: zu einer zunehmenden Bewußtseinserhellung und Bewußtseinserhöhung.
Wenn der menschliche Geist aus seiner gegenwärtigen Krise heraus will und seinen weiteren Fortschritt in der Richtung der in ihm angelegten Entwicklung wünscht, so muß er diesen Weg wiederum durch das königliche Tor der Achtsamkeit betreten.
Ein Buddhist ist also jemand, der
SICH-SEINER-SELBST-BEWUSST
werden will oder es bereits ist.
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