Das Lied der Nachtigall

Über die Freude und das Rufen des wahren ICHs, der Höheren Seele*


Wer bin ICH ?

Hat es je, seit die Erde steht, einen Menschen gegeben, der auf diese Frage die richtige Antwort wüßte ? Ich bin die unsichtbare Nachtigall, die in dem Käfig sitzt und singt.
Aber nicht jedes Käfigs Stäbe schwingen mit, wenn sie singt.
Wie oft habe ich dir ein Lied angestimmt, daß du mich hören möchtest, aber du warst taub dein Leben lang. Nichts im ganzen Weltenraum war dir stets so nach und eigen wie ich, und jetzt frägst du mich, wer ICH bin !
Manchem Menschen ist die eigene Seele so fremd geworden, daß er tot zusammenbricht, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, daß er sie erblickt. Er erkennt sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihm zum Medusenhaupt verzerrt; sie trägt das Antlitz der üblen Taten, die er vollbracht hat und vor denen er sich heimlich fürchtet, sie könnten seine Seele befleckt haben.
Mein Lied kannst du nur hören, wenn du es mitsingst.
Ein Missetäter ist der, der das Lied seiner Seele nicht hört - ein Missetäter am Leben, an anderen und an sicht selbst. Wer taub ist, der ist auch stumm. Schuldlos ist, wer immerwährend das Lied der Nachtigall hört, und ob er gleich Vater und Mutter erschlüge (Metapher). Wie soll ich hören ? Wie soll ich es hören ?
Mein Lied ist eine ewige Melodie der Freude.
Wer die Freunde nicht kennt - die reine, grundlose freudige Gewißheit, die ursachlose:
Ich bin, der ich bin, der ich war und der ich immer sein werde - der ist ein Sünder am heiligen Geist. Vor dem Glanz der Freude, die in der Brust strahlt wie eine Sonne am inneren Himmel, weichen die Gespenster der Dunkelheit, die den Menschen als die Schemen begangener und vergessener Verbrechen früherer Leben begleiten und die Fäden seines Schicksals verstricken.
Wer dies Lied der Freude hört und singt, der vernichtet die Folgen jeglicher Schuld und häuft nie mehr Schuld auf neue Schuld. Wer sich nicht freuen kann, in dem ist die Sonne gestorben, wie könnte ein solcher Licht verbreiten. Sogar die unreine Freude steht näher dem Licht als der finstere, trübselige Ernst. Du fragst, wer ICH bin ?

Die Freude und das Ich sind dasselbe. Wer die Freude nicht kennt, der kennt auch sein ICH nicht.
Das innerste Ich ist der Urquell der Freude, wer es nicht anbetet, der dient der Hölle. Steht
denn nicht geschrieben: ICH bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir ?
Wer das Lied der Nachtigall nicht hört und singt, der hat kein ICH; er ist ein toter Spiegel geworden, in dem fremde Dämonen kommen und gehen - ein wandelnder Leichnam wie der Mond am Himmel mit seinem erloschenen Feuer. Versuch's nur und freue dich !
So mancher, der es versucht, frägt: Worüber soll ich mich denn freuen?
Die Freude braucht keinen Grund, sie wächst aus sich selbst wie Gott; Freude , die einen Anlaß braucht, ist nicht Freude sondern Vergnügungen. So mancher will Freude empfinden und kann nicht - dann gibt er der Welt und dem Schicksal die Schuld. Er bedenkt nicht: eine Sonne, die das Leuchten fast vergessen hat, wie könnte die mit ihrem schwachen Dämmerschein schon die Gespensterschar einer tausendjährigen Nacht verjagen ? Was einer sein ganzes Leben hindurch an sich selbst verbrochen hat, läßt sich nicht gutmachen in einem einzigen kurzen Augenblick !
Doch in wen einmal die ursachlose Freude eingezogen ist, der hat hinfort das ewige Leben, der er ist vereint mit dem Ich, das den Tod nicht kennt - der ist immerdar Freude - und wäre er auch blind und als Krüppel geboren.

Aber die Freude will gelernt sein - sie will ersehnt sein, denn was die Menschen ersehnen, ist nicht die Freude, sondern der Anlaß zur Freude. Nach ihm gieren sie und nicht nach der Freude.

* Aus dem Buch "Walpurgisnacht" von Gustav Meyrink 1917